Das Foto des Monats März 2013

Wie das Schneeglöckchen büßen musste
Mein Vater hat es mir erzählt, und der hatte es von seinem Vater, der auch wieder von seinem - aber ich höre lieber damit auf, sonst komme ich überhaupt nicht mehr zum Anfang. Wenn es aber so viele erzählt haben, ist es auch bestimmt wahr!
Vor langer Zeit sahen alle Blumen weiß aus, weiß wie ein Tischtuch, bevor ihr es mit Klecksen von Suppe, Schokoladenpudding, Himbeersaft oder Ketschup verziert habt, so weiß wie frischer Schnee. In diesen Tagen versammelte Hutzliputzli, der Zwergenkönig, alle Blumen um sich. Und weil er ein richtiger Zwerg war, lebte er unter der Erde, und da waren auch die Blumen.

"Mich, Hutzliputzli, kennt ihr!", begann er so verschnörkelt wie seine 30cm lange Nase. "Ich bin der Herrscher über tausend Zwerge, die für mich arbeiten!", fuhr er fort und zeigte in die Runde. "Tausend!!!", wiederholte er mit seiner dünnen Fistelstimme, und seine Zwerguntertanen scharrten zustimmend mit den Füßen, einige klopften sogar bollernd an die Tontöpfe, die überall herumstanden. Tausend Zwerge und tausend Töpfe - was sollte das bedeuten?

"Die Töpfe...!", Hutzliputzli unterbrach seine Rede und zwinkerte listig mit seinen dicken Augenbrauen, die voll mit Moos besetzt waren, so alt war der Zwergenkönig schon. "Die Töpfe sind für euch!" Dann klatschte er in die winzigen Hände, die tausend Zwerge taten dasselbe, und plötzlich brutzelte und dampfte es aus allen Ecken. Unter jedem der tausend Töpfe brannte ein helles Feuer, und nach oben heraus quollen blaue Rauchwölkchen und hüllten die neugierigen weißen Blumen ein, dass sie husten mussten. Das taten sie auch, aber ganz zart, denn es waren ja Blumen!
"Und wozu das alles?", fragte der Löwenzahn geradezu, und der Hahnenfuß wiederholte spitz: "Und wozu das alles?"
Hutzliputzli aber schmunzelte geheimnisvoll und rieb sich vergnügt die Hände.
"In jedem der tausend Töpfe ist eine Farbe: Rot, Blau, Gelb, Braun - jede ein bisschen anders, aber jede wunderschön. Ich will euch eine Freude machen: Jede Blume darf sich eine Farbe aussuchen! Die Farbe, die ihr am besten gefällt. Damit werden euch meine Zwerge anmalen!"

Man konnte nicht einmal bis zehn zählen, da drängten sich die Blumen schon um die Farbtöpfe und ließen sich von den munteren Zwergen bemalen: Das Veilchen violett, das Vergissmeinnicht strahlend blau mit einem gelben Auge, der Löwenzahn kräftig gelb, das Stiefmütterchen ganz bunt und die Schneeglöckchen zartrosa!
Während sich nun die Blumen gegenseitig bewunderten, gab ihnen
Hutzliputzli gute Ratschläge.
"Bleibt schön am Feuer, denn die Farben trocknen nur langsam!", mahnte er. "Dann halten sie aber auch euer Leben lang! Draußen auf der Erde ist es sowieso Winter, da habt ihr jetzt nichts zu suchen. Wird es erst Frühlung, sind die Farben trocken, und ihr könnt euch den Menschen zeigen!"

Die Blumen nickten bei Hutzliputzlis Worten artig mit den Köpfchen, auch das blassrosa Schneeglöckchen, es dauerte aber gar nicht lang, da hatte das die warnenden Worte schon wieder vergessen. Es hatte ein weiches Herz, unser Schneeglöckchen, und die Menschen taten ihm leid. "Die armen!", dachte es insgeheim bei sich. "Wie werden sie nach dem häßlichen, weißen Winter warten, dass sie endlich ein bisschen Farbe sehen! Wie tun sie mir leid jetzt!"

Nun dauerte es gar nicht mehr lange, da stahl sich das mitleidige Schneeglöckchen davon, kroch durch eine Erdspalte und steckte sein Köpfchen aus der Erde, aus lauter Mitleid mit den Menschen. Oh weh, es lag noch immer Schnee! Nicht mehr viel, aber doch noch genug, dass das vorwitzige Schneeglöckchen erbärmlich fror. Zu seinem Unglück steckte es mitten in kalten Schneeflocken, die es arg zwickten, denn sie mochten keine Blumen leiden. Das war aber noch nicht das Schlimmste, das unserem mitleidigen Schneeglöckchen widerfuhr; es geschah noch etwas viel Gräßlicheres: die rosa Farbe ging ab! Überall weichte sie von den Blütenköpfchen ab, weil sie noch zu frisch war, und so sah es beinahe aus, als ob das arme Schneeglöckchen einen Blutstropfen verloren hatte. Da war das Schneeglöckchen zu Tode erschrocken und ließ traurig sein Köpfchen hängen, denn nun war es wieder genauso weiß wie der Schnee ringsum, nur noch ein paar zarte, grüne Streifen durchzogen seine schlanken Blütenblätter. Bei allem Unglück hatte es aber doch einen Trost: Die Menschen freuten sich über die Blume, die es als erste gewagt hatte, trotz Eis und Schnee zu ihnen zu kommen. Das rührte das weiche Herz des Schneeglöckchens so sehr, dass es sich in jedem Jahr weder durch Eis und Schnee abhalten lässt, zu uns zu kommen und den Frühling zu verkünden. (...überliefert)